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Leronoth

Kritischer Theoretiker

Registrierungsdatum: 24. September 2003

Beiträge: 7 082

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Sonntag, 3. Juni 2007, 18:31

[Roman] Sartre, J.P. - Der Ekel

Jean-Paul Sartre : Der Ekel

Jean-Paul Sartres Werk "Der Ekel" stellt seine zentrale Auseinandersetzung mit der Existentialphilosophie dar und wurde zum Gründungsstein des französischen Existentialismus.
Stellenweise wirkt das Werk wie der Versuch, die Existentialphilosophie in Erzählform zu bringen, was ihm auch gut gelingt.
Als Stilmittel wählt Sartre die intime Tagebuchform, welche jedoch teilweise die innere Konsequenz vermissen lässt. Versucht Sartre anfangs das Leben des Antoine Roquentin als authentisches darzustellen, indem er Wortauslassungen, Streichungen, unleserliche Worte und fehlende Datierungen anmerkt, so verschwimmt dies im weiteren Verlauf. Die Tagebuchform wird zur Ich-Erzählung, verliert sich in den Gedanken des Protagonisten und wird immer ungefilterter. Paradox wird es spätestens dann, wenn er im Tagebuch davon schreibt, nicht schreiben zu können oder seine gerade gefassten Gedanken nicht fassen könne. Doch dies ist bloß ein kleiner Makel, einer sonst detailliert und konsequent dargestellten Geschichte.
Dabei ist der Begriff der Geschichte fast schon ein falscher. Statt Inhalt findet der Leser über große Strecken Innerlichkeit. Äußere Erlebnisse dienen dem Protagonisten als Folie, an der er sich abarbeiten kann. Er nimmt wahr, reflektiert und konstituiert seine Existenz in der Distanz zur Äußerlichkeit. Der existentialistische Widerspruch zwischen Innerlichkeit/Moral und Äußerlichkeit/Ästhetik wird überdeutlich. Der ist es auch, der das ganze Buch durchzieht, aber sich immer wieder erneuert.
Zwar mag die (äußerliche) Welt aus Faulheit Tag für Tag die gleiche sein, die Empfindung des Protagonisten erlebt eine Entwicklung, die von Faulheit zu Ekel umschlägt. So wird der Anfang durch eben jene Langeweile und Faulheit dominiert. Die Realität wird erkannt und sogar so gut gekannt, dass sie kaum mehr betrachtet werden muss, um verstanden zu werden. So verliert sich Roquentin immer wieder darin aus einzelnen Gesten, Sätzen und Erfahrungen auf die Zukunft oder das Innenleben der anderen Personen zu schließen.Das Äußere wird zur Karikatur, zur verfestigten Form, der keine Wandlung zugesprochen wird, ja, die später nicht einmal mehr betrachtet werden muss um gekannt zu werden. Die Realität verdinglicht sich, verfestigt sich und wird zum Fetisch. Der Vorwurf an die Gesellschaftsmenschen, das Leben würde für sie das Denken übernehmen, sie wären Erfahrungsresistent, trifft ihn selber.

Auch sonst sind die zentralen Aspekte des Existentialismus dominierend. Das qualitative Zeiterleben wird der quantitativen Zeit entgegengestellt. Das Ressentiment gegen das künstliche, aufgesetzte und die verblendende Bewegung des Alltags taucht in Permanenz auf. Dem uneigentlichen Alltag wird die eigentliche Innerlichkeit entgegengestellt, die vom Protagonisten angestrebt wird. Ein "nach außen gerichtetes Sein" wird verworfen, die Innerlichkeit wird zum eigentlichen des Daseins, das Existenz werden will.
Natürlich sind auch die Furcht und die Angst dominierend, ebenso wie die Erinnerung der Vergänglichkeit, das "Bewusstsein zum Tode" und die "vollkommenen Augenblicke", welche Sinn und Zweck allen Strebens darstellen. Kaum ein Aspekt des Existentialismus wird vergessen, selbt der Widerspruch zwischen innerlichem Begreifen und äußerem Verstehen, zwischen Mimesis und rationalistischer Erkenntnis wird aufgegriffen, detailliert nachvollzogen.
Dabei ist die Schilderung ergreifend, wenn sie auch einige Durststrecken aufweist. Das Empfinden des Menschens wird so detailliert und emphatisch geschildert, dass es Suggestionskraft besitzt.
Es ist aber sicherlich wichtig zu bemerken, dass es Sartre schafft, die gröbsten reaktionären Tendenzen des Existentialismus zu umschiffen. Seine Ranküne richtet sich primär gegen gesellschaftliche Normen und Repräsentationen, nicht gegen Menschen und im Gegensatz zum bekannten Hass auf das Fremde, ist es hier eher das Nahe, Bekannte, was bei ihm zum Ekel führt, wenn die Differenz zwischen Nah und Fern überhaupt anerkannt wird. Zwar gibt es Anknüpfungspunkte zu reaktionärer Kulturkritik, diese weisen jedoch kaum Affinität zum konservativen Revolutionarismus auf und sind nirgends bestrebt in der Eigentlichkeit des Bergdorfes Zuflucht zu suchen. Zwar fehlt kritisches Engagement und der falsche Humanismus wird so entschieden zerschmettert, dass eine Errettung des selbigen kaum mehr möglich scheint, doch geht es hierbei auch um die Errettung des Individuums, welches in manchen Spielarten des Existentialismus nur zu gern geopfert wird. Dem Buch fehlt die Sehnsucht nach der falschen Aufhebung des falschen Zustandes.

Sicher wäre noch viel zu schreiben. Das Verhältnis zur Geschichte, zum Zeitempfinden und zur Rolle der Liebe und Seelenverwandschaft, oder der namensgebende "Ekel" wird intensiv behandelt, dies zu durchdringen ist aber sicherlich kein einfaches Unterfangen.
So bleibt zu sagen, dass Sartre ein tiefgreifendes Buch gelungen ist, das sich nicht in falscher (nämlich versöhnlicher) Tiefe verliert und das Denken und Fühlen des Existentialismus anschaulich darzustellen vermag. Schriftstellerisch ist es mehr als bloß solide und trotz des kaum vorhandenen äußeren Inhalts vermag sich "Spannung" aufzubauen. Schriftsteller und Philosoph Sartre finden zueinander, wenn auch der letzte dominiert.
Herz voll Leid und Missgeschick,
Das voll sehnsucht Eden sucht,
Weine! - Oder sei verflucht!

Baudelaire
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