„Als die Nacht mich freigab, war ich ein namenloses Etwas, ein
unpersönliches Wesen, das die Begriffe „Vergangenheit“ und „Zukunft“
nicht kannte.“ Solchermaßen desorientiert erwacht Georg Amberg eines
Tages aus dem Koma – im Bemühen, seinen Zustand zu erklären, beginnt er
sich zu erinnern: an seine Zeit als Arzt in dem kleinen Dorf Morwede in
Westfalen im Deutschland der 1930-er Jahre, in dem er auf allerlei
skurrile Gestalten und Ereignisse trifft. Da ist der russiche Fürst
Praxatin, durch die Revolution seines Status und seiner Reichtümer
beraubt, der seltsame Knabe Federico, dessen Gesicht Amberg irgendwie
bekannt vorkommt, die schöne und zugleich mysteriöse Kallisto Tsanaris,
eine ehemalige Arbeitskollegin, die ihm seit der ersten Begegnung nicht
mehr aus dem Kopf gehen will und, als wichtigste Gestalt von allen, der
Freiherr von Malchin, eine Herrschergestalt zwischen Genialität und
Größenwahn. Nur langsam kommt Amberg hinter die Verbindungen zwischen
diesen Gestalten, hinter ihre Geheimnisse und den wahnsinnige Plan des
Freiherrn: mittels eines Halluzinogens, das aus der Getreideseuche
„Muttergottesbrand“, auch St. Petri-Schnee genannt, gewonnen wird,
vermag er religiöse Wahnvorstellungen hervorzurufen und will die Droge
nutzen, um den Glauben zurück bringen ins entzauberte 20. Jahrhundert –
angefangen bei den Bewohnern seines Dorfes.
Doch die Dinge kommen anders als gedacht und Ende steht eine blutige Katastrophe, die Amberg
schwer verletzt zurück lässt … oder war es am Ende – wie die Ärzte
immer wieder versichern – doch ein Autounfall, der Amberg ins Koma
versetzte? Waren die Ereignisse in Morwede am Ende bloßerTraum?
„St. Petri-Schnee“ ist eindeutig einer der rasanteren Romane von Leo Perutz,
der das kriminalistische Element und den Spannungsaufbau sehr stark
macht. Trotzdem bietet er auch das, was den Literaten Perutz vor allem
ausmacht: das gekonnte Spiel mit unterschiedlichen Erzählebenen und dem
Intellekt des Lesers, der am Ende nicht mehr mit Sicherheit entscheiden
kann(und soll), was Realität ist und was Traum. Die absolute technische
Präzision und Perfektion der literarischen Konstruktionen verweist
immer wieder auf den Mathematiker Perutz*, dessen Romane demnach auch auf
formaler Ebene Einiges bieten. Ebenso besticht der Roman jedoch auch
inhaltlich durch seine skurill-mysteriösen Figuren und die interessante
Grundidee hinter dem Plan Malchins, die übrigens auch in neueren
Forschungen zur sog. Biogeschichte diskutiert wird.**
* Perutz studierte u.a. Mathematik, bevor er sich dem Schreiben zuwandte.
** Tatsächlich vertreten einige Forscher die These, dass Wellen religiöser
Wahnvorstellungen im Mittelalter und der frühen Neuzeit auf eine
Vergiftung mit der Getreideseuche Mutterkorn zurückzuführen sind, bei
Interesse:
http://de.wikipedia.org/wiki/Mutterkorn
"Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrundegehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind."
(Thomas Bernhard)